Sonntag, 28. Juni 2009

Orient-Express

"Das ist ja im Osten!", Mary war außer sich, als Carola ihr den Stadtteil nannte, in den wir ziehen wollten. Dabei wurden ihre Augen groß wie Eierbecher und das Entsetzen war deutlich abzulesen. Die Mutter unserer Pflegetochter hatte immerhin das Buch über den "Bahnhof Zoo" gelesen und war ebenso entsetzt. Sie nahm mir das Versprechen ab, gut für ihre Tochter zu sorgen, dann würde sie auch nicht dagegen sein, dass wir in eine andere Stadt und ein anderes Bundesland ziehen.

Für Mary allerdings waren wir gestorben. Sonntags in der Gemeinde kannte sie uns fast nicht mehr. Mir war das ziemlich egal, denn ich war sowieso immer der Sonderling gewesen und hatte mich an diese Rolle gewöhnt. Carola tat das weh, sie war mit Mary durch viele Stationen gegangen, hatte in der Sonntagsschule, in der Jugendgruppe mit ihr gemeinsam erlebt und später noch zusammen gearbeitet. Mary - so schien es - war nur an Arbeitskräften interessiert und da wir nun absehbar als solche ausfallen würden, waren wir einfach nicht mehr interessant für sie. Weil Carola und Mary Cousinen waren - entfernte zwar - gab das noch einen Stich extra.

Bei mir saß der Stich mit dem Osten extra tief. Mit welcher Euphorie war die Einheit gefeiert worden, mit welchem Euphemismus war all die Jahre von den Brüdern und Schwestern im Osten gesprochen worden. Mit welcher Gleichgültigkeit war ich all die Jahre behandelt worden. Und wenn ich mich als geborener DDR-Bürger zu erkennen gab, wollten die einen ersteinmal meine Sprache lernen, um mich zu verstehen, die anderen betonten, dass ihnen das "gar nicht" aufgefallen sei und das sollte dann wohl ein Lob sein.

Jedenfalls war ich froh, dass Carola nach über 15 Jahre 'wöstlicher' Ehe mit mir auch den Mut aufbringen konnte mit mir in den Ostteil der Stadt zu ziehen.